Momentum
Die Fotografien von Jörg Steinmetz

Weiss der Himmel, was wir sehen! Wenn ein Gesicht da ist, was ist dann wirklich Da: sein Temperament, sein Lebenstempo? Seine Beseelung, implosiv, sein Ausdruck, expressiv? Epidermis, Haar, Fett? Kann ein Gesicht pornographisch sein? Kann es linolschnittig erscheinen, aquarelliert? Und was bleibt von ihm in der Erinnerung, in der Begierde, im Ekel, in der Schwärmerei? Es gibt keine festen Gesichter und Gestalten. Es gibt Aggregatzustände und Seinsweisen, und auf der Seite des Betrachters Intensität oder Flüchtigkeit. Ich habe Fotografien gesehen, die aussahen, wie aus der Meditation abgelöst, als seien sie entstanden wie ein Renaissancemaler Porträts malte, ein paar Quadratzentimeter täglich, und auf diesen die ganze Bewusstheit.

Ein andermal habe ich einen Menschen gesehen, fotografiert wie Egon Schiele malte, konzentriert auf einen Punkt, der Rest verlief im peripheren Sehen, weggerafft von der Bewegung oder von der Flüchtigkeit des Blicks, des wählerischen. Ich glaube, beide Fotografien habe ich bei Jörg Steinmetz gesehen. Beide blieben. Manche haben die Qualität eines Schnappschusses, Steffi von Wolff, manche die einer Ikone, Janet Jackson, die beiden folgen im Buch aufeinander, und sie sind dennoch verwandt, nicht als die Geiseln eines Blicks, eher als die von einem Blick zusammengebrachten Komplizen.

Gestern diese Erscheinung: Mein Volksschullehrer mitten in der Bewegung, mit der er sich zur Tafel wendet, die Kreide in der erhobenen Hand, kurz vor dem Aufsetzen, gesehen in einem Augenblick der Erleichterung, weil er sich wegwendet und die Klasse nicht mehr mit seiner Aufmerksamkeit bedroht. Er gefror so, das war sein Eigentliches und die Erinnerung wohl von Jörgs Fotos angeregt. Manchmal können Fotos den Blick auf eine Spur setzen, und man reist noch eine Weile weiter auf dieser. Da war er also wieder, der Volksschullehrer in jenem Augenblick, den mein Gedächtnis früher überblättert hatte. Und wieder war er nah. Das ist nicht der der Zeit entrissene Augenblick allein, nicht der gefrorene Existenzzustand, von dem man in der Fotografie gern spricht. Eher handelt es sich um den Augen-blick der Sichtbarkeit, jenen Augenblick, in dem ein Mensch „erscheint“, aus einem Einfallswinkel, in den alles fließt: Zeit, Erfahrung, Licht in Bahnen oder Flecken, Unterdrücktes, Vergessenes, ein kommendes Alter, Angst, Zwang, Erleichterung.

Es ist der Moment, in dem sich ein Mensch zu erkennen gibt. Manchmal wider Willen, ohne es verhindern zu können. Es ist der Moment, in dem meist das Verhalten zur Kamera, also zur kollektiven Erinnerung, der die Kamera vorarbeitet, vergessen wird, anders gesagt, in dem die Pose unbewusst wird – und dennoch gibt es das Wahrhaftige selbst in der Pose. Es handelt sich auch um den Augenblick, in dem der Fotografierte für sich selbst ist oder scheint. Merkwürdig, zum Kostbarsten in der Fotografie gehören jene Momente, in denen der Fotografierte kein Bild abgeben will. Solche Momente sind unter Menschen des öffentlichen Lebens – routinierten Schaufenster-Dekorateuren des eigenen Innenlebens - besonders selten. Die Fotos von Jörg Steinmetz sind voller solcher Momente. Sie arbeiten nicht am Glamourösen, eher suchen sie den Grund, der manche Menschen überlebensgroß gemacht hat. Das heißt, sie ergründen, indem sie blicken. So muss der Fotograf den Menschen vor seiner Kamera den Weg zu ihrem Eigentlichen öffnen, dem Leben, das sie mit sich selbst führen. Deshalb sind die meisten Fotografien hier so still, deshalb sind diese Menschen keine Sich-selbst-Darsteller mehr, sondern sie sind, interpretieren ihre individuelle Vitalität, ihre Stamina. In ihrem Bezug nicht auf die Kamera, sondern auf sich selbst, sind die Menschen, wie Steinmetz sie sieht, von einer existentiellen Schutzlosigkeit – nicht preisgegeben, aber durchlässig.

Das Erste, das man an einer hochstehenden Person wahrnimmt, ist, wie profan sie ist. Die selbstlose Arbeit des Betrachters aber liegt darin, sie nicht auf die Person zu reduzieren, die auch essen und schlafen und aufs Klo gehen muss – die also im Kern bloß gewöhnlich ist -, sondern ihr die Größe zurückzuerstatten, wohl wissend, dass diese der Erde verhaftet ist. Wenn es schon eine Kategorie wie Größe gibt, dann offenbart sie sich eher im Binnenverhältnis, im Rätsel der Persönlichkeit, der Produktivität, in Aura und Charisma. Deshalb sind diese Fotografien so abgewandt, angezogen von etwas, das außerhalb des Fotos liegt und deshalb doch in seine Mitte kommt, als Bei-sich-Sein. Dies eint die Berühmten und die Unberühmten. Der Fotograf enthüllt, wie man ein Denkmal enthüllt. Er zieht den Schleier vom Unikat des Augenblicks, in dem Wesentliches erscheint, und der Fotografierte lässt es geschehen. Zugleich Monument, zugleich flüchtig. Da steht er, objektiviert und mehr als das, der Moment, der Spezifisches, also eben nicht Momentanes, preisgibt. Es geht nicht um die Möglichkeit, auch mal, zwischendurch, irgendwann, weit weg von sich „erwischt“ zu werden, es geht um den sichtbaren Menschen und um die Arbeit, unter einem besonderen Blick seine Sichtbarkeit zu erhöhen.

Jörg Steinmetz hat diesen Blick, der dem Gegenüber noch in der ausgesetzten Situation seinen Schutz lässt. Wohl wissend, wie selten, wie fast unmöglich es ist, Gegenwart herzustellen, reine Gegenwart, present tense, ermöglicht er den Menschen vor seinem Objektiv Subjekt zu sein, ganz Subjekt, herausgelöst aus der Pose, entrückt dem Effekt. Sie recken sich wie Juliette Lewis, sie reiben den Kopf mit der Hand wie Michael Lentz, sie vereinzeln sich zu dritt auf einer Straße wie Princess Pants, sie schreiten, ganz im Schreiten verloren wie Nadja Einzmann, sie liefern sich aus wie Margarete Mitscherlich – es ist Momentum, ihr Eintritt ins Jetzt, sie sagen es sich nicht, sie sagen es, indem sie so sind: Be Here Now!

Roger Willemsen